Die Welt dreht sich immer schneller und es ist nicht absehbar, in welche Richtung sie sich entwickeln wird. Neue Prozesse, neue Software und Workflows, neue Teamwork-Skills für die Zusammenarbeit im Homeoffice: Die technischen, sozialen und digitalen Anforderungen im heutigen beruflichen Umfeld ändern sich dynamisch und auch die Weiterbildung muss sich diesen Veränderungen anpassen – durch effektives und effizientes Lernen im beschleunigten Berufsalltag.
Anforderungen an eine neue Lernkultur
Dass klassische Trainingsmethoden allein nicht ausreichen, darüber herrscht mittlerweile Einigkeit in den Personalabteilungen, zumal die „Theorie der Vergessenskurve“ von Hermann Ebbinghaus zeigt, wie schnell erlerntes Wissen wieder vergessen wird. Außerdem ist vieles, was in einer Schulung vermittelt wird, nicht selten schnell veraltet – sei es durch die nächste Version, neue gesetzliche Anforderungen oder eine Veränderung des betrieblichen Umfelds. Daher ist das Gesamtkonzept, sowohl formelle als auch informelle Lernangebote anzubieten, nachhaltiger.
Welches Mischungsverhältnis bringt den meisten Lernerfolg?
Hier kommt das 70-20-10-Modell ins Spiel. Es zeigt, wie komplex Lernen im Arbeitsumfeld sein kann und wie Lernmöglichkeiten strukturiert sein sollten, um Mitarbeitende dabei zu unterstützen, ihr Bestes zu geben, um die erforderlichen Fähigkeiten zu entwickeln. Arbeitgebende sollten davon absehen, zu viel in traditionelle Ausbildung zu investieren, und stattdessen ein Umfeld für informelles Lernen fördern. Lernen kann nicht mehr losgelöst von der Arbeit betrachtet werden, sondern Lernen wird Teil der Arbeit. Im Gegenzug wird die Berufserfahrung zu einem integralen Bestandteil des Lernens.
Was steckt hinter dem 70-20-10-Modell?
In den 1980er-Jahren wurde das Modell von Morgan McCall, Robert W. Eichinger und Michael Lombardo entwickelt: Im Rahmen eines Forschungsprojekts untersuchten die drei Mitarbeiter des US-amerikanischen „Center for Creative Leadership“, wo und wie sich rund 200 Führungskräfte die Skills für ihren beruflichen Erfolg angeeignet hatten. Im Jahr 1996 veröffentlichten die Forscher die Ergebnisse dieser Studie in ihrem gemeinsamen Buch „The Career Architect Development Planner“. Demnach erwerben Führungskräfte ihre Kompetenzen
- zu 70 Prozent durch die Bewältigung schwieriger Aufgaben und Herausforderungen im Beruf
- zu 20 Prozent durch den Austausch mit Kollegen, Vorgesetzten und Mentoren
- zu 10 Prozent dank klassischer Weiterbildung mithilfe von Büchern oder Seminaren, in denen sie Wissen aufbauen
Was bedeutet das für die Umsetzung?
70 Prozent: Lernen durch Herausforderungen im Beruf
Durch selbstorganisiertes informelles Lernen am Arbeitsplatz werden die größten und schnellsten Lernfortschritte erzielt. So lernen die Mitarbeitenden am meisten, wenn sie herausfordernde Aufgaben übernehmen und sie selbstständig Lösungen finden können. Beispiele hierfür:
- herausfordernde Projektarbeit
- neue Aufgaben oder Verantwortungsbereiche
- Job-Rotation, interner Arbeitsplatzwechsel oder Einsatz an anderen Standorten
20 Prozent: Lernen durch Interaktion
Zudem lernen wir auch im Umgang mit Kolleg:innen (z.B. durch Beobachtung, Nachahmung, gezieltes Fragenstellen), indem wir so Wissen hinzugewinnen oder uns bestimmte Verhaltensweisen antrainieren. Hierzu gehört auch die Online-Interaktion in Team-Chats. Auch diese Form des Lernens gehört zum Informellen Lernen im Arbeitskontext, z.B. durch
- Coachings und Mentoringprogramme
- Austausch in sozialen Netzwerken, Chats und Diskussionsforen
- Teamprojekte
10 Prozent: Lernen durch klassische Weiterbildung
Es mag überraschen, doch die klassische Weiterbildung zählt mit nur 10 Prozent zu der kleinsten Gruppe. Das bedeutet aber nicht, dass man formelles Lernen deshalb vernachlässigen sollte. Ohne formale Trainings hat ein:e Berufseinsteiger:in kaum eine Chance, einen neuen Job effizient auszuüben. Außerdem gelten auch heutzutage formale Schulungen in vielen Fällen immer noch als Grundvoraussetzung für bestimmte Tätigkeiten oder für eine Beförderung. Um die Bedeutung des Lernens durch klassische Weiterbildung als Fundament für weitere Maßnahmen zu unterstreichen, drehen einige Unternehmen die Formel deshalb einfach um und nennen ihren Ansatz „10-20-70-Modell“.
Zum formalen Lernen gehören:
- Bücher für die Mitarbeitenden
- Seminare, wie Präsenzveranstaltungen
- Klassische E-Learning-Angebote – Lineare Nutzung (hierbei halten sich die Lernenden an einen vorgegebenen Lernplan)
- E-Learning 2.0-Angebote – Situative/nicht-lineare Nutzung. Lerninhalte können spezifisch aufgerufen werden. Lernende haben mehr Freiheit und können die Lernzeiten in ihren Arbeitsalltag integrieren, z.B. in Online-Kursen.
Fünf Tipps, wie das 70-20-10 Modell im Unternehmen implementiert werden kann
Das 70-20-10-Modell verlangt ein ganzheitliches Verständnis von organisationalem Lernen und setzt an mehreren Stellschrauben an:
Tipp 1: Führungsverantwortliche sensibilisieren und schulen
Damit 70-20-10 erfolgreich eingeführt und umgesetzt werden kann, ist es wichtig, sowohl das HR-Team als auch die Führungskräfte aus den Fachbereichen mit einzubinden, sodass sie selber die Notwendigkeit und den Mehrwert für den Berufsalltag erkennen.
Tipp 2: Aufbau einer langfristigen Lernkultur
Viele Maßnahmen der betrieblichen Weiterbildung werden noch immer als einmaliges Event in Unternehmen durchgeführt (wie z.B. mehrtägige Schulungen einmal im Jahr). Allerdings hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass die größten Lernfortschritte geschehen, wenn sich Mitarbeitende im fortlaufenden Wachstumsprozess befinden, indem sie Problemstellungen im Alltag lösen und sich so weiterbilden. Hierbei ist Geduld gefragt, denn natürlich passiert dieses Wachstum nicht über Nacht, sondern erfordert eine anhaltende Reflexion – sowohl vonseiten der Personalverantwortlichen sowie den Führungskräften als auch von den Lernenden selbst.
Tipp 3: Skill Management und Lernformate aufeinander abstimmen
Informelles Lernen funktioniert nicht nach dem Gießkannenprinzip, sondern hängt von den individuellen Kompetenzen der Lernenden ab. Es bezieht sich auf bereits vorhandene Skills, Erfahrungen und Einstellungen sowie an Rand- und Rahmenbedingungen. Neueinsteigende und Mitarbeitende, die mit den modernen Lernangeboten noch nicht vertraut sind, profitieren daher besonders von individuellen formalen Lernangeboten, die ihnen zu den fachlichen Grundlagen verhelfen. Je mehr die Erfahrung dann wächst, desto mehr nimmt der Bedarf an klassischen Lernoptionen ab und das informelle Lernen rückt in den Vordergrund. An dieser Stelle kann die Skill-Gap-Analyse im Rahmen eines Skill Managements eine gute Hilfestellung geben, welche konkreten Lernbedarfe aktuell bestehen. So kann anhand der Ergebnisse dann gezielt auf individuelle Lernpfade oder Formate gesetzt werden.
Tipp 4: Förderung von Lernenden
Ein großer Pluspunkt beim informellen Lernen ist der unmittelbare Zugang zur eigenen Tätigkeit und die Möglichkeit der direkten Umsetzung im Berufsalltag. Jedoch hat sich hierbei gezeigt, dass ein Mentoring bzw. die Unterstützung einer Lerngemeinschaft die Effektivität deutlich erhöhen kann. Zudem ist das gegenseitige Lernen und Austauschen von Informationen und Erfahrungen unter den Lernenden von unschätzbarem Wert. Derzeit ist es in Deutschland noch eine Ausnahme, doch ein wichtiger Baustein beim selbstbestimmten Lernen: die Bereitschaft von Unternehmen, ihren Mitarbeitenden Freiräume für Lernzeiten zu gewähren, in denen sie sich weiterbilden oder sich ein völlig neues Thema erschließen können.
Tipp 5: Vertrauen ist besser
Die Umsetzung von neuen Lernformaten und Modellen wie dem 70-20-10-Prinzip kann nur gelingen, wenn Mitarbeitenden nötige Freiraum gegeben wird und somit auch das Vertrauen, das es dafür braucht. Das heißt im Umkehrschluss aber auch, dass sowohl Führungskräfte als auch Personalentwickelnde Kontrolle und Entscheidungsmacht abgeben und Raum für selbst organisiertes Lernen schaffen sollten. Denn wer vor allem durch praktische Erfahrung lernt, braucht auch Zeit zum Nachdenken, zum Ausprobieren, zum Anwenden und um sich über seine Netzwerke auszutauschen. Wichtig ist hierbei, gleichzeitig eine Kultur der Fehlerfreundlichkeit zu entwickeln und Mut zum Experimentieren durch Versuch und Irrtum einzuladen. So werden Führungskräfte und auch die Personaler:innen eher zu Fördernden und Begleitenden, wenn sie das Modell in ihrem Unternehmen mit Leben füllen wollen.
Fazit
Am besten lässt sich das 70-20-10 Modell in Unternehmen implementieren, wenn es als Rahmen gesehen wird und nicht als Anleitung. Die Prozentzahlen sind dabei ebenfalls nicht als feste Regel zu verstehen, sondern bieten eine Orientierung, die flexibel interpretiert werden kann. Der erste Schritt ist der Mut und die Bereitschaft, sich für neue Wege des Lernens zu öffnen und gemeinsam mit den Mitarbeitenden nach den optimalen Wegen für das berufliche und persönliche Wachstum zu forschen.